Am Freitag, den 6. November 2015, machte sich eine Gruppe von Theater- und Medienwissenschaftlern auf zum Spielart-Festival nach München. Gleich früh am Morgen trafen wir am Erlanger Hauptbahnhof zusammen, wo Dorothea Pachale, Dozentin für Theaterwissenschaft an der FAU, uns bereits erwartete. In Nürnberg stieg dann der restliche Teil der Gruppe zu, welche aus „Thewis“ verschiedener Semester bestand. Einige kamen mit befreundeten Kommilitonen an, aber auch wenn man niemanden kannte und der einzige aus seinem Jahrgang war, fand man schnell Anschluss in der Gruppe. Es wurde von Anfang an viel geredet und gelacht. Später vor allem über die Performances, die wir an diesem theaterreichen Wochenende besuchten. Unsere Begleiter, Dorothea Pachale und Dr. Veit Güssow, Regisseur und Dozent für Theaterwissenschaft an der FAU, hätten das Programm kaum bunter und vielfältiger zusammenstellen können. Nach der langen Zugfahrt waren erst einmal alle erleichtert, in der Jugendherberge München-City durchatmen zu können. Diese war durch ihre zentrale Lage perfekt geeignet, alle Aufführungsorte mit öffentlichen Verkehrsmitteln rasch zu erreichen und in der Zwischenzeit das Rathaus auf dem Marienplatz, den Englischen Garten und weitere schöne Ecken in der Landeshauptstadt zu besichtigen. Viel Zeit für einen Stadtbummel blieb nach der Zimmerverteilung allerdings nicht.
In kleinen Gruppen versuchten nun alle, das i-camp des Neuen Theaters München ausfindig zu machen, um Innocent von Astrit Ismaili anzuschauen oder vielmehr daran teilzunehmen. Denn gleich zu Beginn unseres Ausflugs stand eine Darbietung, die so ziemlich alle Kriterien erfüllte, die man mit der auf Ereignishaftigkeit und Aktion setzenden Performancekunst in Verbindung bringt. Träume und Gender-Identität, Kunst und Markt, Abhängigkeit und Spiritualität sind laut Programm die Themen, welche in Innocent verhandelt werden. Die Meinungen unter den Zuschauern, ob diese auch so ankamen, gingen weit auseinander. Wobei man bei dieser Aufführung eigentlich nicht von Zuschauern sprechen konnte, da kein Zuschauerraum existierte. Die Grenze zwischen Künstlern und Zuschauern war komplett aufgehoben. Wie beim Besuch einer Ausstellung bewegte man sich frei im Raum um „Kunstwerke“ herum, um reale Menschen in ihrer spezifischen Leiblichkeit, die wie in einem surrealistischen Traum verstörende, sinnfremde, zusammenhanglose Handlungen vollzogen, welche sich einer sprachlichen Beschreibung beinahe entziehen. Zuschauer wurden provokanten Fragen ausgesetzt, sie wurden berührt und in den Kreis der Akteure hineingezogen. Mit der Zeit entledigten sich die Akteure ihrer Kleider, bis einige komplett nackt waren. Ein nackter Akteur begann, operalen Gesang von sich zu geben. Ein anderer stand nackt und breitbeinig da und hielt mit ausgestreckten Armen eine Sellerie empor. Ein Akteur fragte Zuschauer auf Englisch, ob sie mit ihm schlafen wollen und machte verschiedene Preisangebote. Die nackten Performer machten seltsame Verrenkungen, tänzerische Bewegungen, rannten durch den Raum, sodass man vieles sah, was man vielleicht lieber nicht sehen wollte. Besonders das enge Vorbeigehen an Zuschauern war provokant. Für viele sicher ein einschneidendes künstlerisches Erlebnis, mir persönlich zu aufdringlich und floskelhaft.
Am Abend ging es dann ins „Schwere Reiter“ zu Hiatus, einer Tanzperformance von „satellit produktion“, die sich mit dem Moment des Aufeinandertreffens von Passant und Bettler auseinandersetzte. Die Zuschauer wurden auf verschiedenen Podesten platziert, um die herum sich die Aufführung ereignete. Texte aus der Sicht von Bettlern wurden vorgetragen, dazu fand eine Art Ausdruckstanz statt. Zuschauern wurden eindringliche Blicke zugeworfen, Texte wurden an sie gerichtet gesprochen. Der Moment des Umbruchs in einem selbst, wenn man einem Bettler begegnet, das, was einem alles durch den Kopf geht in diesem Moment – einem Hiatus-Moment – sollte tänzerisch zum Ausdruck gebracht werden. Wie es sich dem anschließenden Publikumsgespräch entnehmen ließ, handelte es sich um dokumentarische Texte und Selbstexperimente, welche zur Entstehung der Aufführung beitrugen. Bettler wurden von den Tänzern interviewt, einige Akteure setzten sich selbst als Bettler in die Münchner Innenstadt und beobachteten die Reaktionen der vorbeigehenden Menschen. Auch hier gingen die Meinungen auseinander, ob es richtig sei oder nicht, das Thema des Bettelns tänzerisch zu verarbeiten. Meiner Meinung nach hat sich die Performance-Gruppe mit einem gesellschaftlichen Problem, das in der Kunst kaum Beachtung findet, auf sensible Art und Weise auseinandergesetzt, ohne dabei eine klare Position zu beziehen. Unter anderem deshalb, weil es sich um dokumentarische Texte handelte und die Bewegungen, die einen inneren Zustand nach Außen kehren sollten, verfremdet waren, sah ich das Ganze als eine unter vielen möglichen Perspektiven auf die gewählte Thematik an, als eine Alternative. Mit dem Vorwurf des Betroffenheitstheaters konnte ich persönlich hier nichts anfangen, auch wenn sich natürlich über die schauspielerische Qualität der Tänzer streiten ließ. Meiner Meinung nach ein sehr gelungener Abend.