Quantcast
Channel: Meine FAU
Viewing all articles
Browse latest Browse all 482

Eindrücke vom 20. internationalen figuren.theater.festival

$
0
0

Tänzerinnen in „Die zweite Realität“ (Foto: Anna Appel)

Was haben Augenbinden, Kinderstimmen, Wackersteine, Infrarot-Handschuhe, Puppen, Backpapier, verschiedenes Obst und Gemüse und ein nackter Hintern gemeinsam? Keine Ahnung? Die richtige Antwort lautet: Sie alle können zu Objekten des Figurentheaters werden. Das und vieles mehr konnte man beim Besuch des 20. internationalen Figurentheaterfestivals erfahren, das vom 19. bis zum 28. Mai unter anderem in Erlangen stattfand. Ein paar Eindrücke von drei verschiedenen Aufführungen der letzten Tage sollen euch einen Einblick in das Festival bieten, das alle zwei Jahre etliche Besucher im Raum Erlangen, Nürnberg, Fürth, Schwabach anzieht. Nun also ein Rückblick auf „Blind Cinema“ von Britt Hatzius (Deutschland/Großbritannien) im Manhattan-Kino in Erlangen, „Die zweite Realität“ von Meinhardt/Krauss/Feigl (Deutschland) in der Tafelhalle in Nürnberg und zu guter Letzt auf den „Puppetry Slam im Künstlerhaus im KunstKulturQuartier in Nürnberg.

„Blind Cinema“
Im Foyer des Manhattan-Kinos in Erlangen drängen sich die Menschen am Montag, den 22. Mai um 16 Uhr dicht an dicht und versuchen, bei der stickigen Luft den Überblick und ihre Theatertickets nicht zu verlieren. Wenige Minuten später werden sie, also wir, in den Kinosaal eingelassen – freie Platzwahl. Die Wahl des Sitzplatzes ist an diesem Tag auch gar nicht wichtig, denn es gibt nicht viel zu sehen, dafür umso mehr zu hören. Wir nehmen also irgendwo Platz und starren auf eine Leinwand, auf der ein weißer Farbklecks auf schwarzem Grund umherirrt. Als die Leinwand weiß wird, werden wir gebeten, die Augenbinden, die uns im Eingangsbereich ausgeteilt wurden, aufzusetzen. Blind im Kino also. Gegenwartstheater schön und gut, aber dafür nun der Eintrittspreis und die dicke Luft im Foyer?

Dann plötzlich das Trappeln etlicher kleiner Füße hin zu unseren Sitzplätzen. Halt, da kitzelt etwas am Ohr und stülpt sich nach einigem Gewackel darüber. Stimmt, da waren ja schwarze Sprachrohre hinten an der Sessellehne angebracht, leicht zu übersehen – jetzt nicht mehr zu sehen. Wir sitzen auf unseren Sesseln wie Blinde, während ein Film anläuft, den wir nicht sehen. Ein paar Geräusche sind zu hören, aber keine Dialoge. Der Atem eines Kindes dringt durch das Sprachrohr an mein Ohr und verwandelt sich zu einem aufgeregten Flüstern. Die Kinderstimme berichtet mir, was sie vorne auf der Leinwand beobachtet und sofort entstehen Bilder in meinem Kopf. Das reale Bild vor den Augen des Mädchens verwandelt sich über dessen Stimme in ein fiktives Bild in meinem Kopf. Und ich sehe einen Kinofilm vor meinem inneren Auge ablaufen – nicht denselben Film, den das Kind gerade anschaut, das ist ziemlich sicher.

Nach ungefähr zehn Minuten verstummt die Stimme des Mädchens. Vorsichtig entfernt es sich von seinem Platz hinter mir. Stattdessen tritt ein Junge hinter mich, wie ich an seiner Stimme erkennen kann. Er berichtet ebenso von dem, was er auf der großen Leinwand beobachtet, und doch scheint er einen völlig anderen Film anzusehen als das andere Kind zuvor. Während mir das Mädchen eloquent ein Sekundenprotokoll abgeliefert hat, lässt der Junge jede Minute mal ein Schlagwort fallen. Sein Film scheint nicht halb so actionreich zu sein wie der des kleinen Mädchens. Und noch einmal wird durchgewechselt – und wieder sehe ich einen neuen Film durch die Augen eines anderen Kindes. Als der Film zu Ende ist und ich die Augenbinde schließlich abnehme, stehen die bisher unsichtbaren Kinder bereits vor der Kinoleinwand, lachen, grinsen verlegen und freuen sich sichtlich über unseren Applaus. Eine einzigartige, entschleunigende und überaus eindrucksvolle Kinoerfahrung!

Auch Steine können zu Objekten des Figurentheaters werden, hier in „Die zweite Realität“ (Foto: Anna Appel)

„Die zweite Realität“
Leider bin ich mal wieder spät dran, als ich den bereits abgedunkelten Aufführungssaal in der Tafelhalle in Nürnberg am 22. Mai um kurz nach acht betrete. Da ich in der ersten Reihe sitze, die sich direkt neben der Einlasstür befindet, bleibt mir ein peinliches durch die Reihen Stolpern jedoch zum Glück erspart. Und die Vorstellung hat soeben erst begonnen, wie mir die Einlassdame versichert. Drei Tänzerinnen im gleichen, schlichten Kostüm beginnen mit einer Art professionellem Ausdruckstanz, ziehen Wackersteine über den Bühnenboden und steuern mit ihren Bewegungen über spezielle technische Einrichtungen Sound-, Licht- und Videoeffekte. Eine warme Frauenstimme aus dem Off erzählt eine Geschichte – eine Art areligiöse Neuauflage der Schöpfungsgeschichte, welche die Spannung zwischen Geschöpfen und geschaffenen Dingen thematisiert, getreu dem Stil: „Am Anfang war der Sand. Und als sie den Sand geschaffen hatten, fanden sie ihn gut“ (oder so ähnlich).

Die Inszenierung folgt einer klaren Struktur, welche man als Zuschauer recht schnell durchdringt: neu geschaffenes Objekt, Kontaktaufnahme der Geschöpfe mit diesem neuen Objekt, Änderung in der Beziehung zwischen dem neu geschaffenen Objekt und den Geschöpfen. Der Tanz sowie die gesamte Inszenierung sind beeindruckend, wobei ich mir an manchen Stellen etwas mehr Abwechslung gewünscht hätte. Interessanterweise endet die Inszenierung nicht mit der Erschaffung der Maschine oder des Computers, wie ich es aufgrund der vorletzten Szene (Erschaffung des Papiers) und wegen der technischen Elemente innerhalb der Inszenierung erwartet hätte. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen nehmen die Zuschauer wahr, um was es in der letzten Szene geht: die Erschaffung des Betts. Gleichzeitig ist der Schluss ziemlich tiefgründig, lautet er doch so ähnlich wie: „Und sie ruhten den ganzen Tag aus und hatten einander lieb und wurden endlich viele.“

Zum Inszenierungsgespräch unter der Moderation von FAU-Dozent Dr. Dr. Albrecht Fritzsche (Wirtschaftsinformatik) habe ich es leider nicht mehr geschafft, hätte aber die Beschreibung der Inszenierung im Programmheft vor dem Vorstellungsbesuch genauer durchlesen sollen. So hätte ich besser verstanden, worum es eigentlich geht. Ohne diese Informationen fiel es mir teilweise schwer, das Ganze einzuordnen, was die Inszenierung für mich an einigen Stellen etwas langatmig gemacht hat. Trotzdem war es faszinierend, die tanzenden Körper zu beobachten.

Die Finalisten des Puppetry Slams_Nicole Weißbrodt, Marcel Kurzidim, Dietmar Bertram (Foto: Anna Appel)

„Puppetry Slam“
Die Schlange im Künstlerhaus im KunstKulturQuartier in Nürnberg reicht am Mittwochabend, 24. Mai bis zu den Toiletten. Denn an diesem Abend findet hier eine ganz besondere Veranstaltung statt, die man so nicht überall zu sehen bekommt. Kein Poetry-Slam und auch kein Science-Slam, wie man sie zum Beispiel aus dem E-Werk in Erlangen kennt, sondern ein Puppetry-Slam soll nun zum zweiten Mal in Nürnberg präsentiert werden. Ein Puppenspiel-Wettstreit also, bei dem das Publikum entscheidet, wer sich am Ende das ultra-wertvolle Plastik-Prinzessinnen-Glitzerkrönchen aufsetzen und als Gewinner des Wettbewerbs nach Hause gehen darf. Dabei ist „Puppenspiel“ im weitesten Sinne aufzufassen, denn gespielt wird nicht nur mit Puppen, sondern auch mit Obst und Gemüse, mit nackten Körperteilen, mit Papier und vielem mehr.

Für seinen Auftritt hat jeder Künstler genau 7 Minuten lang Zeit, nicht mehr und nicht weniger. Und wer sich nicht daranhalten kann, wird mit Blinke-Leuchtpistole und Seifenblasen brutal bestraft. Zum Auftakt der Show tritt eine international erfolgreiche Puppenspielerin (Anne Klinge) außer der Reihe auf und rockt wortwörtlich die Bühne, indem sie auf dem Rücken liegend mit in die Höhe gestreckten Füßen und verschiedenen Accessoires eine Slapstickkomödie zu bekannten Rocksongs aufführt, wobei ihr rechter Fuß Ehemann und ihr linker Fuß Ehefrau gibt. Diese irre witzige Einlage macht sofort Lust auf mehr. Deshalb geht es sogleich weiter mit einem Einhorn ohne Horn, das an Drogensucht leidet, humorvoll seine Lebensgeschichte erzählt und schließlich das Publikum dazu auffordert, sich sein funkelndes Horn einfach vorzustellen.

Siegerehrung beim Puppetry Slam (Foto: Anna Appel)

Im Folgenden treten auf: ein talentierter Geschichtenerzähler (Dietmar Bertram), der es schafft, mit einem Gartengrill eine epische Gebirgswelt heraufzubeschwören, das tragische Schicksal einer Banane glaubhaft darzustellen und gleichzeitig für jede Menge Lacher zu sorgen; eine Wahrsagerin namens Svetlana, die verspricht, mithilfe ihrer Kugel und ihres Teddybären alle möglichen Zuschauerfragen zu beantworten, im konkreten Fall jedoch eher dazu rät, Google zu befragen statt ihre Kugel; eine sprechende Hand (Marcel Kurzidim), die aus einem Pappkarton hervorragt und es schafft, aufgrund ihrer philosophischen, tiefgründigen und gleichzeitig wahnsinnig lustigen Kommentare ohne große Effekte für tosendes Gelächter im Publikum zu sorgen; eine australische Performance-Künstlerin (Shani Moffat), die ihren nackten Hintern in einen bellenden Köter verwandelt, der seinem Herrchen (obere Körperhälfte der Künstlerin) davonrennt und eine Seniorenpflegerin (Nicole Weißbrodt), die sich vergeblich darum bemüht, die äußerst temperamentvolle, frängische alde Lady Clarissa Zockovic (menschengroße Puppe im Rollstuhl) in Schach zu halten. Moderiert wird der Abend von Jana Heinicke, Gründerin des Puppetry Slam Berlin, die es schafft, mit ihrer ironischen, trockenen Art für noch mehr gute Stimmung im Publikum zu sorgen.

Nachdem alle Künstler einmal an der Reihe gewesen sind, treten die drei Finalisten erneut gegeneinander an: Nicole Weißbrodt, Dietmar Bertram und Marcel Kurzidim. Auch wenn mir die erste Performance bei allen dreien besser gefallen hat als die Finalperformance, bringen mich vor allem Dietmar, aber auch Nicole und Marcel erneut zum Lachen (Marcel kommt leider nicht ganz zum Ende). Schließlich entscheidet der Publikumsapplaus, dass Nicole Weißbrodt mit ihrer Clarissa Zockovic wie schon beim Puppetry-Slam vor zwei Jahren das Siegerkrönchen mit nach Hause nehmen darf. Und die meisten Zuschauer haben sicher schon lange nicht mehr so viel gelacht wie an diesem fantastischen Abend.

Kommt zum figuren.theater.festival 2019!
Habt ihr nun Theaterblut geleckt, aber das Festival vor lauter Unistress leider verpasst? Dann merkt euch das Figurentheaterfestival unbedingt schon mal für 2019 vor. Falls ihr dann nicht mehr hier studieren solltet: Ein guter Anlass, mal wieder einen Kurztrip nach Erlangen zu machen! Es lohnt sich auf jeden Fall!

Anna Appel


Viewing all articles
Browse latest Browse all 482


<script src="https://jsc.adskeeper.com/r/s/rssing.com.1596347.js" async> </script>