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Wie viele Sklaven halten Sie?

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Foto: Kaletsch Medien GmbH

FAU-Professorin Evi Hartmann hat mit ihrem Buch den Nagel auf den Kopf getroffen. Foto: Kaletsch Medien GmbH

Prof. Dr.-Ing. Evi Hartmann ist im Moment in aller Munde. Ihr Buch „Wie viele Sklaven halten Sie? Über Globalisierung und Moral“ erscheint in der Bestseller-Liste von Amazon zum Thema Globalisierung auf Rang neun. Der Spiegel und Jetzt haben bereits Interviews mit ihr geführt. Hartmann ist Lehrstuhlinhaberin für Supply Chain Management an der FAU. Im Interview mit meineFAU verrät sie, warum wir alle Sklavenhalter sind und was wir dagegen tun können.

60 Sklaven pro Person. Wie es scheint, haben wir nicht viel aus der Vergangenheit gelernt.

Evi Hartmann (EH): Oder, zynisch betrachtet: ganz viel. Immerhin halten wir unsere Sklaven nicht mehr auf dem eigenen Gutshof, wo wir und die Nachbarn sie jeden Tag sehen müssen. Nein, wir betreiben Sklaverei-Offshoring und halten unsere Sklaven jetzt in fernen Ländern. Das verführt manchen Zeitgenossen auch zur kecken Aussage: „Aber ich halte doch gar keine Sklaven!“ Der Zusammenhang zwischen modernem Konsum in Zeiten der Globalisierung und dem Los moderner Lohnsklaven lässt sich leicht verdrängen – leichtestens mit dem nächsten Frustkauf.

Viele wissen von den Arbeits- und Lebensbedingungen in armen Ländern. Und trotzdem steigt der Konsum weiter an. Warum?  

EH: Der Fairness halber müssen wir sagen: Auch der Konsum von fair produzierten und gehandelten Waren steigt weiter an – natürlich auf viel tieferem Niveau. Früher hätte man gesagt: Weil der Mensch schlecht ist. Wir sind Sünder allzumal. Heute kennt man die Motivationsstruktur des modernen Menschen besser: Wir sind vielleicht nicht Sünder allzumal, aber alle mehr oder minder statusgetrieben. Wenn meine beste Freundin das neue iPhone oder das Galaxy 7 hat, kann ich nicht mit dem Fairphone 2 daherkommen! Das würde Distinktionsverlust bedeuten – so empfinden zumindest viele. Warten Sie, bis der erste Promi sich mit dem fairen Phone von einem Paparazzo ablichten lässt. Dann wird Moral plötzlich hip. Wir könnten uns auch kraft Charakterreife für moralisches Handeln entscheiden. Aber das ist eine Entscheidung, die höchste persönliche Souveränität und Unabhängigkeit von der Sucht nach sozialer Anerkennung verlangt. Erstaunlicherweise emanzipieren sich immer mehr Menschen von Suchtverhalten…

Weshalb kümmert es so wenige, dass für ihren Wohlstand Menschen leiden müssen?  

EH: Wieso kümmert es den Raucher so wenig – nichts gegen Raucher! – dass er in 30 Jahren mit hoher Wahrscheinlichkeit Krebs kriegt? Das ist das Lustprinzip. Jacke ist näher als Hose. Oder was die beiden Ökonomen von Böhm-Bawerk und Pigou – VWL 101! – die Defective Telescopic Faculty nennen: Der Mensch unterschätzt systematisch seine zukünftigen und überschätzt seine aktuellen Bedürfnisse. Zu Deutsch: Was juckt mich das Leiden fremder Menschen in fernen Ländern und meine ewige Verdammnis nach meinem Ableben in ferner Zukunft, wenn die neuen Pumps oder Laufschuhe heute, hier und jetzt so geil an mir aussehen? Das ist kein Charakterschaden! So wurden wir vor 300.000 Jahren genetisch programmiert. Und bislang wurde der Code nicht umgeschrieben – von der Evolution. Einzelne Menschen schaffen die Reprogrammierung. Das sind (nicht nur) die, die im Weltladen einkaufen.

Die Moral spielt Ihrer Meinung nach eine große Rolle. Wieso?  

EH: Eine geniale Frage! Denn das vorherrschend praktizierte ökonomische Modell geht offensichtlich davon aus, dass Moral vernachlässigbar ist, bestenfalls eine „außerökonomische Variable“. Also dass es okay ist, wenn Minensklaven für unsere Smartphones sterben – solange das Design vom Smartphone up to date ist. Man mag darüber streiten, ob der Kauf einer solchen Ware bereits den Tatbestand der Beihilfe erfüllt – aber dass wir damit unsere Seele verkaufen, ist offensichtlich. Deshalb spielt Moral eine Rolle. Für mich. Ich gebe zu, dass das nicht für jeden und jede gelten muss.

Wie können wir alle für eine moralischere Welt eintreten?  

EH: Wir alle können das nicht. Moral wird zwar oft als Kollektivzwang verstanden, aber seit wann ist Zwang moralisch? Ich verstehe Moral eher als ganz persönliche Entscheidung: Ich möchte ein guter Mensch werden und ich möchte ein guter Mensch bleiben. Dass viele andere das nicht unbedingt möchten, darf meine moralische Entscheidung zunächst einmal nicht beeinflussen. Natürlich: Wenn jeder und jede zu dieser Entscheidung kommt, dann tun letztendlich alle etwas für eine bessere Welt. Indem wir zum Beispiel immer mehr Produkte einkaufen, die fair produziert und fair gehandelt werden. Indem wir nicht auf wohlfeile Zertifikate hereinfallen, sondern jeden Tag zehn Minuten selber im Internet recherchieren, ob das Produkt an sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit hält, was sein Zertifikat verspricht. Zehn Minuten Internet täglich für die Moral? Nie war es so leicht, ein besserer Mensch zu werden.

Fairtrade-Produkte kaufen, reicht das schon?  

EH: Wenn wir das alle täten – das wäre die Weltrevolution! Natürlich zu Beginn nicht mit unserem kompletten Wocheneinkauf. Aber wenn wir nur jede Woche ein, zwei Produkte fair einkaufen würden. Und jeden Monat ein weiteres dazu nähmen – wir würden die Welt binnen kürzester Zeit revolutionieren. Denn die klassischen Hersteller und Händler würden massiv auf den Trend aufspringen; einige machen das bereits jetzt schon zaghaft. Es gibt inzwischen schon beim Discounter Faires zu kaufen. Aber daneben gibt es noch so viel, was wir tun können. Warum brauchen wir denn jedes Jahr ein neues Smartphone? Warum kaufen wir Kleidung so oft billigst? Warum spenden wir nicht mehr für faire Projekte? Warum suchen wir im Internet nicht nach fairen Anliegen, die wir zumindest mit einem Klick unterstützen?

Auf was müssen wir verzichten, um etwas zu ändern?  

EH: Auf das, worauf wir verzichten wollen. Das ist der Unterschied zwischen Moral und Mode. Die Mode diktiert uns: Kauf X, verzichte auf Y. Die Moral fragt uns: Et tu Brute? Worauf möchtest du verzichten, um ein besserer Mensch zu werden? Im Moral-Coaching, falls es sowas gibt, frage ich das Menschen gerne – und jedem und jeder fallen auf Anhieb jede Menge Verzichtbares ein. Aber Verzicht ist nicht er einzige Weg zur Moral. Man kann auch bewusst einkaufen – und oft muss man dafür nicht mal draufzahlen. Bei Second Hand zum Beispiel nicht.

Wie sind Sie auf Ihre 60 Sklaven aufmerksam geworden?  

EH: Wie es jeder und jede könnte: im Internet. Wer sich auch nur für fünf Klicks für das Thema interessiert, stößt recht schnell auf entsprechende Hinweise auf solche Websites, die eben unter anderem die Anzahl der „eigenen“ Sklaven kalkulieren. Wenn ich das Zwölfjährigen zeige, sind die völlig baff: Die kennen das Internet nur von Facebook, Skype und Multiplayer-Spielen. Dass man auch sinnvolle Dinge mit dem Netz anstellen kann, ist vielen neu. Man muss ihnen ganz behutsam beibringen, dass es auch so etwas wie „Internet-Recherche“ gibt. Stell dir vor, die Welt der Information liegt dir zu Füßen – und du trittst sie damit!

Im Moment scheint sich ein Trend in Richtung fairen Konsums zu bilden. Würde das allen Sklaven helfen?  

EH: Im Prinzip ja. Wenn die Produkte tatsächlich halten, was das Siegel verspricht. Denn wo „fair“ draufsteht, können keine Sklaven gehalten werden. Also müsste man als Konsument oder Supply Chain Manager erst einmal prüfen, wie valide der Siegel-Audit ist. Dann müsste man die eigene Definition von „Sklaven“ überprüfen. Es gibt auch so etwas wie ökonomische Sklaverei: Wenn der Bauer in die Fabrik muss, weil seine Gemeinde zu arm ist für ein Bewässerungssystem und deshalb die Felder verdorren, dann bezeichne ich diesen Fabrikzwang bereits als „Sklaverei“. Dann hilft der faire Konsum nicht. Dann müsste man auch Entwicklungsprojekte unterstützen. Das machen übrigens einige Firmen. Auch das steht im Internet und auch diese Firmen kann man durch Konsum unterstützen.

Würde ein Konsumwandel bedeuten, dass alles teurer würde?

EH: Das ist die Ausrede der Bremser. Der Lohnanteil an moderner OffshoringWare ist oft verschwindend gering. Bei Massenprodukten reichen zehn, zwanzig Cent, damit ein Living Wage bezahlt werden kann; ein Lohn, von dem Arbeiter leben können, ohne dass Familien hungern oder die Kinder in den Nähsaal müssen. Diese paar Cent sind nicht „teuer“. Außerdem kann Konsumwandel auch Konsumverzicht bedeuten. Essentialism ist zum Beispiel im amerikanischen Raum schwer im Kommen. Dann spart man sogar noch! Immer mehr Leute kaufen statt drei Billigklamotten auch lieber ein qualitativ hochwertiges Teil: Hält länger, ist oft sogar billiger als die drei – und ist fair.

Ist eine moderne, moralische Welt denkbar?

EH: Nein. Nicht auf dem Hintergrund der Geschichte der Menschheit. Wir waren nie kollektiv oder auch nur überwiegend gut und werden es nie sein. Wir nicht – aber Sie und ich und er und sie haben die Chance dazu. Moral ist eben keine Mode, kein Distinktionsgewinn, kein Statusobjekt, keine Majoritätssache und ursächlich keine Kollektivveranstaltung. Nach meinem Verständnis ist Moral die größte Chance nicht für die Menschheit insgesamt, sondern immer nur für jeden einzelnen denkenden Menschen ganz individuell, ein guter Mensch zu werden und ein guter Mensch zu bleiben. Das ist kein Gebot, kein Muss, sondern eine einzigartige Chance, die sich nie an eine Menge, sondern immer nur an den einzelnen Menschen richtet. Manche ergreifen sie. Wenn viele sie ergreifen, wird die Welt viel besser. Aber wenn nur ich sie ergreifen würde, wird die Welt ebenfalls besser. Meine Welt. Für einen moralischen Menschen ist das der kleine Unterschied, der den großen Unterschied macht.

Vielen Dank für das ausführliche Interview!

Leonie Fößel


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